Nie wieder ist jetzt?

07.02.2024 | Allgemein | 0 Kommentare

Warum hat die AfD so viel Zulauf? Woher kommt die Unzufriedenheit? Warum haben die Menschen so große Angst?

Es ist paradox. Den allermeisten Menschen in diesem Land geht es sehr, sehr gut. Dennoch herrscht eine enorme Angst. Auch unter jenen, denen es sehr, sehr gut geht. Der Hass auf Andersartigkeit blüht. Zukunftsangst macht sich breit. Rechtsextremismus erstarkt.

Wie kann das sein?

Diese Frage stellen sich aktuell Hunderttausende in Deutschland voller Ungläubigkeit, Ekel und Fassungslosigkeit. Mich eingeschlossen.

8x mehr und trotzdem subjektiv weniger

Nun kann die Psychologie natürlich nicht alles erklären. Aber ein zentrales Element dieses Phänomens lässt sich anhand von Daten aus den USA viel besser fassen. Dort gibt’s ja eine ähnliche Situation, nur deutlich zugespitzter:

Die typische weiße Familie verfügt dort über 8x (!!!) so viel Vermögen wie die typische schwarze Familie. Trotzdem berichten weiße Amerikaner, dass es ihnen wirtschaftlich schlechter geht als den schwarzen Amerikanern. Crazy.

Ein gemischtes Team der Universitäten Colgate und Virginia liefert nun nicht nur eine Antwort, sondern die Daten dazu gleich mit.

Es geht insgesamt gar nicht um den Vergleich mit schwarzen Familien – oder analog in Deutschland um den Vergleich mit Familien, die einen Migrationshintergrund haben oder die Bürgergeld beziehen oder in nicht-klassischen Familienkonstellationen leben. Es geht nicht um die andersartige „Outgroup“.

Es geht um die Ingroup. Die Leute wissen, dass sie privilegiert sind. Doch sie haben den Eindruck, dass sie zu wenig vom Privilegienkuchen abbekommen. Sie fürchten einen sinkenden Status innerhalb der eigenen Gruppe. Sie haben Angst vor überproportionalem Privilegienverlust.

Das wiederum führt messbar zu schlechter Laune: zu weniger positiven Emotionen, schlechterer Schlafqualität und einer Zunahme depressiver Symptome. Es geht den Leuten nicht gut. Naja, zumindest den Weißen. Denn für Weiße konnten die Effekte nachgewiesen werden, für Schwarze aber nicht. Krass oder?

Wie Verteilungsprozesse interpretiert werden

Wir kennen sowas auch generalisierter aus Verteilungsprozessen. Menschen schauen nicht auf das, was sie haben. Sie vergleichen das, was sie haben, mit dem, was andere in ähnlicher Situation (die „Ingroup“) haben.

Dummerweise überschätzen sich Menschen jedoch gerne. Männer deutlich mehr als Frauen. Das führt dazu, dass viele Menschen bei Verteilungsprozessen quasi automatisch unzufrieden sind. Sie haben das Gefühl, dass sie zu kurz kommen Das ist, ganz am Rande, ein wichtiger Grund, weshalb insbesondere große Firmen die Gehälter nicht offenlegen: Angst vor Zeter und Mordio.

Was bedeutet das nun für den Umgang mit AfD-Fans?

Viele von denen fühlen sich benachteiligt. Das mag irrational sein, folgt aber einem beschreibbaren Muster. Siehe oben.

Nun finde ich die momentanen Massendemos zwar einerseits gut, richtig und wichtig. Mache auch selbst mit.

ABER. Die häufig extreme Polarisierung und Zuspitzung scheint mir andererseits wenig hilfreich oder gar kontraproduktiv zu sein. Ich bin unsicher, ob sich durch die Demos aufgrund der obigen Denkfigur mehr Menschen von Argumenten gegen die AfD überzeugen lassen oder ob nicht doch der AfD dadurch mehr Menschen aus purem Trotz in die Arme getrieben werden.

Und übrigens gilt das nicht nur für das Thema Migration. Man kann quasi alle Konfliktlinien der aktuellen Kulturkriege darüber deklinieren. Migration, gendergerechte Sprache, gesellschaftliche Teilhabe, Bürgergeld, Dexit. Und so weiter und so fort. Mir isses wie Schuppen von den Augen gefallen.

Was das nun bedeutet

Drei Punkte, die ich mitnehme:

1. Aus meiner Sicht müssen wir den Blick stärker – in einer wertschätzenden Art – auf die tatsächlichen Realitäten der Menschen richten. Natürlich ergeben die Demos viel Sinn, um dem Narrativ der schweigenden Mehrheit den Nährboden zu entziehen. Dennoch sollten wir den Scheinwerfer weniger trennend auf „die Bösen“ und „die Guten“ richten. Man muss gemeinsam und auf Augenhöhe ergründen, was ein realistischer Blick auf (regionale) Identität ist. Wie ist die eigene Position INNERHALB der Ingroup tatsächlich? Das kann man faktisch hinterlegen.

2. Zweitens verstehe ich nun viel besser, warum Medien wie BILD oder Welt oder Focus wie giftig-zersetzende Brandbeschleuniger wirken. Die befeuern die schlechte Laune aus Eigennutz. Die diversen Mauern zwischen Ingroup und Outgroup werden immer höher gebaut. Es ist eine Schande. Wir sollten unseriöse Medien meiden und weder offline noch online irgendwo aus Neugier klicken. Lieber direkt die Fakten bei https://bildblog.de/ checken.

3. Schließlich vermisse ich häufig einen maßvoll einordnenden Blick. Diversity führt halt nicht nur ins Schlaraffenland. Es entstehen als Nebenwirkung von zunehmender Heterogenität (etwa durch Migration oder Genderthemen) und Volatilität (Stichwort Polykrisen) massiv dysfunktionale Konflikte. Komplett aus der Luft gegriffen ist die Kritik am Status Quo also nicht. Es gibt Probleme bei der Integration, man muss vertraute Sprachmuster verlassen und das Management der Pandemie war auch nicht nur bilderbuchartig. Und an diesem Punkt greifen die Demos und Diskussionen halt häufig zu kurz, indem zu einfache Feindbilder aufgebaut werden. Bisschen mehr Zwischentöne wären insofern schon nice.

Puh. Ganz schön lang geworden. Und das ist sicher ein kontroverses Thema. Tut mir einen Gefallen: Kommentare sind willkommen. Aber bitte bleibt freundlich, zivilisiert und wohlwollend.

Bin gespannt auf Eure Gedanken!

Literatur

Caluori, N., Cooley, E., Brown-Iannuzzi, J. L., Klein, E., Lei, R. F., Cipolli, W., & Philbrook, L. E. (2024). Perceptions of Falling Behind “Most White People”: Within-Group Status Comparisons Predict Fewer Positive Emotions and Worse Health Over Time Among White (but Not Black) Americans. Psychological Science, 0(0). https://doi.org/10.1177/09567976231221546

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