Schafft Deutschland sich ab?

30.09.2023 | Allgemein | 0 Kommentare

Was der Wertewandel für die Zukunft des Standorts Deutschland bedeutet

Steht Deutschland vor dem Abgrund? Können Menschen die Wohlfühloase nicht mit einer hohen Leistungsorientierung zusammenbringen, wie Michael Traub unten nahelegt? Geht alles den Bach runter oder gibts Hoffnung?

Viele sehen den Wirtschaftsstandort Deutschland bedroht. Einerseits machen sie das an ausufernder Bürokratie, steigenden Energiepreisen, krassem Fachkräftemangel und verschleppter Digitalisierung fest. Andererseits wird aber auch eine zunehmende Hängemattenmentalität der Deutschen wahrgenommen und als problematisch identifiziert. Doch was ist dran? Kann man gleichzeitig für Hängematte und Leistungskultur sein? Was meint die empirische Evidenz dazu?

Der Blick über den Gartenzaun

Für die Antwort hilft ein Blick über den Gartenzaun in die Nachbarschaft. In der Politologie und Soziologie wird über derlei Fragen nämlich bereits sehr lange diskutiert, dazu liegen massig Daten vor und Stand heute gibbet sogar eine (für wissenschaftliche Verhältnisse) einigermaßen eindeutige Antwort.

Früher hätte man Michael Traub klar zugestimmt. Der amerikanische Politologe Ronald Inglehart machte nämlich bereits ab 1977 datenbasiert drei höchst bemerkenswerte Beobachtungen.

  1. Inglehart fand einen Unterschied zwischen „materialistischen“ und „postmaterialistischen“ Werten. Materialistische Werte beinhalten nach Inglehart neben dem Streben nach Geld und Macht auch eine Präferenz für Stabilität, Sicherheit und Ordnung. Bei den postmaterialistischen Werten hingegen geht’s um Selbstverwirklichung, Teilhabe und Freiheit.
  2. Inglehart sieht eine Unvereinbarkeit dieser Werte. Wer also materialistischer drauf ist, tut dies auf Kosten des Postmaterialistischen und umgekehrt. Mit dieser Perspektive ist Inglehart keineswegs allein. Auch im Wertemodell des Sozialpsychologen Milton Rokeach stehen sich „Harmony“ und „Mastery“ oder „Egalitarianism“ und „Hierarchy“ gegenüber.
  3. Drittens stellt Inglehart einen Wandelwandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten fest. Er begründet dies auf vielfältige Weise, insbesondere aber mit Mangelerleben nach dem Krieg (wer mal wirklich hungern musste, dem ist nach Inglehart die Selbstentfaltung schnuppe und das bleibt so) sowie mit der Sozialisation (wenn die Eltern materialistische Nöte hatten, dann wird die entsprechende Orientierung an die Kids weitergegeben). Diese Denke ist angelehnt an die berühmte Wertepyramide von Maslow (die übrigens gar nicht von Maslow ist, aber das ist ne andere Story).

Im Prinzip sagt Inglehart also genau das aus, was aktuell häufig zu hören ist:

Die Deutschen werden immer fauler, dadurch verlieren wir gesellschaftlich an Biss und das macht die Situation nur noch schlimmer.

Das ist sozusagen die pessimistische Sicht.

Zwei Perspektiven auf das gleiche Phänomen

Das kann man sicherlich so sehen und es ist auch begründbar. Wahrscheinlicher ist jedoch etwas deutlich Erfreulicheres. Das ist die optimistische Sicht.

Die Werteordnung ist nämlich nicht eindimensional. Es war der deutsche Soziologe Helmut Klages, der Mitte der 80er Jahre erstmalig eine zweidimensionale Struktur nachweisen konnte. Und die widerspricht der pessimistischen und etabliert die optimistische Perspektive.

Nach Klages gibt es zwar durchaus Pflicht- und Akzeptanzwerte (Materialismus) auf der einen und Selbstentfaltungswerte (Postmaterialismus) auf der anderen Seite. Diese stehen sich aber nicht unversöhnlich gegenüber. Sie ergänzen sich. Ein sehr ausgeprägtes Pflichtempfinden lässt sich also durchaus mit Selbstentfaltung kombinieren. Und nicht nur das.

Wohlfühloase und Leistungsoriengierung sind nicht nur kompatibel, nein, beides zusammen ist sogar die Idealausprägung. Klages nennt das die „Wertesynthese“. Moderne und traditionelle Werte schließen sich nicht aus, sondern befruchten sich. Die Menschen, die das miteinander verbinden, tauft Klages die „aktiven Realisten“. Aber es wird noch besser: diese aktiven Realisten bilden die größte gesellschaftliche Gruppe. Toll oder?

Die Welt geht nicht unter. Holland ist nicht in Not. Deutschland schafft sich nicht ab. Es gibt Hoffnung 😉

Wo Politologie, Soziologie und BWL mal gleich schwingen

Diese Erkenntnisse aus Politologie, Soziologie und Psychologie passen übrigens sehr gut zu dem, was die BWL seit geraumer Zeit, wenn auch mit etwas anderen Schwerpunkten, beobachtet.

Der Kern der Parallele: die Zeiten von „entweder-oder“ sind vorbei und einem klaren „sowohl-als-auch“ gewichen.

Stichworte dafür gibt es viele, aber wer mal organisationale Ambidextrie, paradoxe Führung, Balance Management oder Dilemmatheorie googelt, wird förmlich erschlagen. Lustiger Weise verliefen die theoretischen Entwicklungen sogar parallel. Als Inglehart an seiner Theorie des Wertewandels saß, argumentierte man in der BWL in ähnlichen Bahnen.

Parallel hatte sich Robert B. Duncan aber im Jahre 1976 erstmalig für duale Strukturen ausgesprochen, um augenscheinlich gegensätzliche Ziele parallel zu erreichen. Er nannte das damals erstmalig „Ambidextrie“ und der Ausdruck hat sich bis heute erhalten.

Doch genug der Historie, springen wir ins Heute. Da haben wir, meinetwegen mal bezogen auf Führung, genau diese Herausforderung der gegensätzlichen Ziele andauernd.

Führungskräfte sollen alle gleich behandeln, aber bitteschön trotzdem total individuell. Sie sollen aufmerksam zuhören, aber gleichzeitig eine attraktive Vision skizzieren. Und sie sollen zwar die Arbeitsanforderungen klar äußern, aber doch bitte auf Flexibilität achten. Und so weiter.

Quadratur des Kreis? Das scheint nur so. Tatsächlich kann das wunderbar klappen und viele Menschen schaffen das auch.

Fazit

Insofern machen wir hier mal nen Punkt und kommen zum Fazit. Ja, es gibt einen klaren und beschreibbaren Wertewandel in Deutschland. Nein, das bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Das ist aber leider zugleich keine Entwarnung. Denn auch wenn eine „Verweichlichung“ der Menschen keine negativen Konsequenzen für unser Land mit sich bringen muss. Bürokratie, Energiepreise, Fachkräftemangel und Digitalisierungsdefizit gibt’s ja trotzdem noch. Vom Klimawandel mal ganz zu schweigen.

Am besten können wir dieser Komplexität jedoch begegnen, indem wir die Menschen mehr ermächtigen. Ich mein: die cool ist das denn? Die optimistische Sicht ist die, die sich datenbasiert nachweisen lässt und die zugleich Freiräume schafft. Mensch. Is dat schön!

Daraus ergeben sich Fragen für die Gestaltung unserer Arbeit: Wie sinnvoll sind die Regeln, die es aktuell in Organisationen und Gesellschaft gibt? Brauchen wir die wirklich alle? Wo können wir Freiräume schaffen?

Es gibt sehr gute Gründe, warum sich die deutsche Wirtschaft Fragen wie diese genau jetzt stellt. Und der öffentliche Dienst hoffentlich auch. Und Ihr so?

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert