Positive Psychologie – Was kann daran schon negativ sein? Leider viel.

17.09.2022 | Allgemein | 0 Kommentare

Wo Positives draufsteht, kann ja wohl kaum Negatives drin sein. Oder vielleicht doch? In der Wirtschaft verkommt die positive Psychologie zunehmend zum kommerziellen Marketingclaim ohne eigene Substanz. 

Warum positive Psychologie?

Martin Seligman hat Unfassbares geleistet. Er hat das Konzept der erlernten Hilflosigkeit entwickelt, unser Wissen über Depressionen entscheidend geprägt und die American Psychological Association als Präsident durch unruhige Zeiten geführt. Achso. Und Bridge spielt er auch gerne (1).

Das alles wäre genug für mehrere Leben, doch Martin Seligman ist zusätzlich auch noch der Wegbereiter der positiven Psychologie. Vermutlich ist das sogar von all seinen wahnsinnigen Leistungen die größte. Die klinische Psychologie hatte immer eine klar defizitorientierte Perspektive. Seligman war die entscheidende Triebfeder für einen anderen Betrachtungswinkel. Einen positiven. Ihm ist es nach Vorarbeiten etwa von Abraham Maslow entscheidend zu verdanken, dass positive Aspekte wie Glück, Zufriedenheit oder Sinn Einzug in die klinische Psychologie hielten. Wo früher vor allem Manuale mit Störungen vorherrschten, gelang dank Seligman immer häufiger auch der optimistische Blick auf Stärken, Chancen und Möglichkeiten.

Nun beobachte ich seit einigen Jahren zunehmend, dass die positive Psychologie neben der klinischen Psychologie auch in die Wirtschaftspsychologie herüberschwappt. Zunächst dachte ich, dass es sich beim Claim „positive Psychologie“ um reines Marketing handelt. Wo Positives draufsteht, kann ja wohl kaum Negatives drin sein. Oder? Und welcher Miesepeter könnte schon was gegen Glück, Zufriedenheit oder Sinn haben? Gute Idee, cooler Move.

Drei Gründe für Misstrauen

Mit der Zeit wuchs aber mein Misstrauen. Und zwar aus drei Gründen.

Erstens habe ich den Mehrwert einer Betrachtung durch eine „positive“ Linse für den Bereich der Wirtschaftspsychologie nie wirklich erkennen können. In der klinischen Psychologie ergibt der positive Winkel ganz viel Sinn. Dort liegt der Fokus ja historisch auf Defiziten. Aber in der Wirtschaftspsychologie? Da ist das ganz anders. Seit den Anfangstagen dreht es sich mehrheitlich um positive Aspekte. Dafür braucht man nicht einmal Fachliteratur – ein Blick in Wikipedia reicht schon:

„They [Wirtschaftspsycholog:innen] contribute to an organization’s success by improving the job performance, wellbeing, motivation, job satisfaction and the health and safety of employees.“

Zweitens kam mir für Konzepte der positiven Psychologie trotz sehr hoher Beliebtheit in der Praxis quasi nie die zugehörige und spezifische Empirie in der wissenschaftlichen Literatur unter. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das „Journal of Positive Psychology“, wo manchmal auch Beiträge mit wirtschaftspsychologischem Bezug in hoher Qualität erscheinen (das „Journal of Happiness Studies“ fällt im Vergleich dazu sehr stark ab). Lustiger Weise verstehe ich aber selbst hier trotz des Titels bezogen auf Wirtschaftspsychologie nicht, was der spezifische Mehrwert sein soll. Im „Aim & Scope“ des Journal of Positive Psychology heißt es zum Beispiel:

„Positive psychology is about scientifically informed perspectives on what makes life worth living, focussing on aspects of the human condition that lead to happiness, fulfillment, and flourishing.“

Vergleicht das mal mit der Definition der mehrere Jahrzehnte älteren Wirtschaftspsychologie. Was soll das? Inhaltlich gibt es immerhin so ein paar Zwitteransätze. Job Crafting beispielsweise wurde von Jane Dutton mit entwickelt (2). Dutton ist eine wichtige Triebfeder und Proponentin der positiven Psychologie, die aus der Wirtschaftspsychologie kommend wahnsinnig tolle Beiträge geleistet hat. Quasi zeitgleich wurden jedoch Gedanken von einem holländischen Team um Evangelina Demerouti, Arnold Bakker und Wilmar Schaufeli in eine ähnliche Richtung entwickelt (3). Meinetwegen kann man in Job Crafting einen bedeutsamen Eigenbeitrag der positiven Psychologie erkennen. Aus meiner Sicht wäre das aber eine einschränkende und nicht notwendige Betrachtung. Flow (4) vielleicht noch, wenn es denn sein muss. Darüber hinaus sehe ich nicht so wahnsinnig viel. Womöglich Ignoranz? Kann durchaus sein.

Drittens kann man positive Psychologie mittlerweile sogar in einem eigenen Masterprogramm studieren (5). Neugierig hab ich mir das angeschaut und war überrascht, dass das inhaltlich gar kein primär klinisches Angebot ist. Auch die Dozent:innen scheinen gar keine psychologischen Psychotherapeut:innen zu sein, sondern mehrheitlich aus der Wirtschaftspsychologie zu kommen. Vielleicht verstehe ich das ja komplett falsch, aber an ein Masterstudium der positiven Psychologie hätte ich fundamental andere Erwartungen. Wo aus meiner Sicht viel klinische Psychologie drin sein müsste, findet sich inhaltlich und personell sehr viel Wirtschaftspsychologie. Komisch. Wörtlich heißt es in der Beschreibung des Studiengangs, dass man durch die Rolle „als Vorreiter in einem neuen Psychologiefeld“ seinen „Karrierevorsprung in Unternehmen und der Forschung ausbauen“ könne. Klingt für mich gruselig, nach Ellenbogen und sehr wenig positiv. Liegt vielleicht am Text. Hängen wir es nicht zu hoch. Aber auffällig ist: kaum klinische Psychologie, nix Psychotherapie, sondern „Unternehmen“. Ich wäre mir nicht einmal sicher, ob dieser Studiengang überhaupt berechtigt zu einer Weiterbildung als psychologische:r Psychotherapeut:in. Die tun da aber in Summe ernsthaft so, als sei positive Psychologie eine komplett eigenständige Disziplin und abgrenzbar vom Rest. In mir regt sich: „I call bullshit.“

Die vernichtende Perspektive der Wissenschaft

Zu diesem Stirnrunzeln gesellen sich seit einiger Zeit kritische Stimmen aus der Wissenschaft. Naja. Seit mindestens 10 Jahren schon (6). Besonders einschlägig beschreiben Mats Alvesson von der schwedischen Lund University und Katja Einola von der finnischen Hanken School of Economics für den Bereich der Führung unter dem vernichtenden Titel „Warning for excessive positivity: Authentic leadership and other traps in leadership studies“ die Defizite von „exzessiver Positivität“. Dabei arbeiten sie gleich sechs Problembereiche heraus:

• wackeliges theoretisches Fundament

• zirkuläres Denken

• schwache empirische Studienlage

• unsinnige Messinstrumente

• grandiose, aber unfundierte Wirksamkeitsbehauptungen

• unzulässig vereinfachtes und veraltetes Bild vom Wirtschaftsleben.

Ich finde den Artikel stark, nachvollziehbar und eindeutig. Lest gerne selbst (7).

Aktuell schaue ich links und rechts in die Literatur. Die aus meiner Sicht relevante Frage lautet: gibt es vielleicht doch nützliche Elemente, die nur in der positiven Psychologie zu finden sind? Oder handelt es sich beim Branding „positive Psychologie“ bezogen auf die Wirtschaftspsychologie tatsächlich vor allem um einen Marketingclaim? Versteht mich nicht falsch: das fänd ich total legitim. Alles gut. Aber besser begreifen würd ich das schon gerne und schaue mich entsprechend nach harter Empirie um.

Die Probleme unterm Brennglas

In diesem Zusammenhang wurde mir folgender Beitrag empfohlen (8), der im April 2022 im Harvard Business Review veröffentlicht wurde: „The Best Leaders Have a Contagious Positive Energy“ (9). Er stammt u.a. von Kim Cameron, einem der Protagonisten der positiven Psychologie. Kim Cameron ist ein enorm verdienstvoller Managementprof der Uni Michigan mit den Schwerpunkten Führung & Kultur, der vor allem durch das tolle Competing Values Framework bekannt geworden ist. In den letzten Jahren konzentrierte er sich hauptsächlich auf seine Beratungstätigkeiten. Letztere werden auch im zitierten Artikel zur Schau getragen, indem das Konzept der „ansteckenden positiven Energie“ verkauft wird. Cameron und seine Kollegin Seppälä berichten von „positive energizers“, verweisen im Artikel auf nicht näher beschriebene Stichproben, die mit nicht näher beschriebenen Daten über nicht näher beschriebene Analysen zu ganz tollen Ergebnissen führen. Für konkrete Infos wird dabei mehrfach auf das „upcoming book“ im Amazon Store verwiesen. Seufz.

Wenn ich das jetzt mal mit Organisationspsychologie würze und zusammen mit der harschen Kritik von Alvesson & Einola in den Mixer haue, kommt ein etwas säuerlich riechendes Gebräu dabei heraus. Das fängt schon bei der Definition an. „Positive relational energy […] is the active demonstration of values.“ Nun war der erste Kritikpunkt von Alvesson & Einola ja das wackelige theoretische Fundament. Wenn mir jemand nen Konzept über eine Metapher wie „Energie“ verkaufen möchte und dann erzählt, dass es sich dabei um „die aktive Demonstration von Werten“ handelt, dann denke ich an Charisma. Charisma ist nämlich genau so definiert: emotionales, symbolisches und wertebasiertes Signalisieren (z.B. 10). „Energy“ ist dabei genauso ein Symbol wie „contagious“ (ansteckend), die „demonstration“ ist das Signalisieren, es geht um Emotionalität und das ganze ist wertebasiert. Da passt kein Blatt dazwischen und so wird auch ein Schuh draus. Die schreiben über „positive relationale Energie“ und meinen Charisma. Kein Wunder, dass sie damit lauter Effekte finden. Charisma ist der beste Prädiktor von Führungserfolg (11). Alter Wein in neuen Schläuchen.

Wobei die obige Definition von Charisma sinnvoll ist, die Definition von „positive relational energy“ aber nicht. Denn was ist schon „active demonstration of values“? Das macht Donald Trump doch die ganze Zeit. Und Putin auch. So wahnsinnig „positiv“ finde ich diese beiden Knilche nicht. Geht es also um ganz bestimmte Werte oder wie? Welche sind das denn und warum? Wann ist ein Wert eigentlich positiv und wer bestimmt das? Seufz. Also wenn man schon ein Konzept klaut, sollte man das zumindest sinnvoll tun. Wackeliges theoretisches Fundament anybody? Here we go.

Aber da endet das Problem noch nicht. Man könnte die ganze Liste der Kritik an exzessiver Positivität von Alvesson & Einola  anhand dieses Beispiels durchdeklinieren. Der nächste Punkt wäre etwa zirkuläres Denken. Wenn ich in einem Unternehmen ein paar Fragebögen verteile und sinngemäß die beiden Fragen stelle: a) „Ist Deine Führungskraft eine Quelle positiver Energie?“ und b) „Fühlst Du Dich gut?“. Ich mein: natürlich finde ich da ne Korrelation. Heidewitzka. Das ist nur ein Schritt vor: „Haste ne gute Führungskraft?“ Jaaaa! „Ist Deine Führungskraft gut?“ Jaaaa! Heißa, eine Korrelation, juchhei. Viel zirkulärer wird’s nicht. Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

Fazit

Doch machen wir an dieser Stelle mal einen Punkt. Das ist jetzt nämlich ein ziemlicher Rant geworden. Sorry dafür. Es liegt mir fern, die großen Errungenschaften und Leistungen der positiven Psychologie kleinzureden oder Legenden wie Kim Cameron anzugehen (Seligman ist bei all dem eh komplett außen vor; das nur zur Sicherheit).

Aber die Frage, weshalb man das Label „positive Psychologie“ oder „positive Führung“ in der Wirtschaftspsychologie abseits eines reinen Marketingclaims braucht, die finde ich nach wie vor angebracht. Wenn es „nur“ beim Marketingclaim bleibt, ist das selbstredend vollkommen in Ordnung. Sobald aber aus einem werbewirksamen Etikett auf einmal eine eigene Disziplin wird mit großem Sendungsbewusstsein, mit einem gewissen Absolutheitsanspruch und mit einer heftigen Kommerzialisierungsmaschine (eigener Verband, eigener kostenpflichtiger Studiengang, verschiedene Zertifizierungen und Ausbildungen, lizensierbare Diagnostik und so weiter und so fort), kann man ja mal kurz innehalten und nachfragen.

Ich bin bei der positiven Psychologie bislang noch bei der Wahrnehmung eines enorm selbstbewusst vorgetragenen Marketingclaims und nicht überzeugt von der originären Substanz. Allerings bleibe ich neugierig und lerne gerne dazu.

Was meint Ihr?

Was hab ich übersehen?

Was gibts da draußen noch?

Literatur & Quellen

(1) Das ist eine ebenso schamlose wie dreiste Untertreibung. Seligman ist 50facher Regionalmeister. Kein Witz.

(2) Wrzesniewski, A., & Dutton, J. E. (2001). Crafting a job: Revisioning employees as active crafters of their work. Academy of management review, 26(2), 179-201.

(3) Demerouti, E., Bakker, A. B., Nachreiner, F., & Schaufeli, W. B. (2001). The job demands-resources model of burnout. Journal of Applied psychology, 86(3), 499.

(4) Csikszentmihalyi, M., & Csikzentmihaly, M. (1990). Flow: The psychology of optimal experience (Vol. 1990). New York: Harper & Row.

(5) https://www.dhgs-hochschule.de/studienangebot/master/gesundheit/positive-psychologie-coaching/

(6) Mayring, P. (2012). Zur Kritik der Positiven Psychologie. Psychologie und Gesellschaftskritik, 36(1), 45-61.

(7) Alvesson, M., & Einola, K. (2019). Warning for excessive positivity: Authentic leadership and other traps in leadership studies. The Leadership Quarterly, 30(4), 383-395.

(8) https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:6976232260735803392?commentUrn=urn%3Ali%3Acomment%3A%28activity%3A6976232260735803392%2C6976411878088392704%29&replyUrn=urn%3Ali%3Acomment%3A%28activity%3A6976232260735803392%2C6976425593886113792%29

(9) https://hbr.org/2022/04/the-best-leaders-have-a-contagious-positive-energy

(10) Bastardoz, N. (2020). Signaling charisma. In Routledge International Handbook of Charisma (pp. 313-323). Routledge.

(11) Hoffman, B. J., Woehr, D. J., Maldagen‐Youngjohn, R., & Lyons, B. D. (2011). Great man or great myth? A quantitative review of the relationship between individual differences and leader effectiveness. Journal of Occupational and Organizational Psychology, 84(2), 347-381.

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